Koalitionsvertrag erfüllen heißt Apotheken stärken

Von Gabriele Regina Overwiening, ABDA-Präsidentin

Was lange währt, wird endlich gut – das musste man für die langwierige Regierungsbildung vor fünf Jahren hoffen. Nach der jüngsten Bundestagswahl am 26. September 2021 ging es zügig: SPD, Bündnis90/Grüne und FDP unterzeichneten bereits am 7. Dezember 2021 den Koalitionsvertrag der neuen Ampel-Regierung. Aber ist das Ergebnis gut? Unter dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“ stand das Kapitel „Pflege und Gesundheit“ – auf immerhin 9 von insgesamt 177 Seiten. Für die Apotheken waren einige interessante Aspekte dabei: Das Vor-Ort-Apothekenstärkungsgesetz (VOASG) von 2020 möge novelliert werden, um eine bessere Honorierung der Pharmazeutischen Dienstleistungen zu erzielen und um Effizienzgewinne innerhalb des Finanzierungssystems zu nutzen. Darüber hinaus möge der Nacht- und Notdienstfonds (NNF) zu einem Sicherstellungsfonds umgewandelt werden. Notfallbotendienste sollen in der ambulanten Notfallversorgung verordnungsfähig werden. Die Apothekenbetriebsordnung soll flexibilisiert und an integrierte Notfallzentren angepasst werden.

Aber die Apothekerinnen und Apotheker interessiert auch das weitere Umfeld von Arzneimitteln, Digitalisierung und Strukturen, um sich auf Zukunftsszenarien vorbereiten und diese auch mitgestalten zu können. Bei den Arzneimittelpreisen liegt im Koalitionsvertrag der Schwerpunkt auf einer Begrenzung zugunsten der Krankenkassenbudgets. Auch das Etablieren von Arzneimittelproduktion in Europa ist ein Anliegen der Koalition. Bei der Digitalisierung sollen das E-Rezept beschleunigt eingeführt und telemedizinische Leistungen wie Arzneimittelverordnungen regelhaft ermöglicht werden. Beim Umbau von Institutionen ist die Liste für die laufende Legislaturperiode besonders lang: So sollen gematik, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Gemeinsamer Bundesausschuss und Unabhängige Patientenberatung Deutschland allesamt reformiert werden. Dazu kommen weitere Themen wie Bürokratieabbau, Cannabislegalisierung und Gesundheitsregionen. Der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat Deutschland und die Welt fassungslos, wütend und traurig gemacht. Staat und Gesellschaft haben deshalb innerhalb weniger Tage zusammen daran gearbeitet, dass Hunderttausende fliehende Frauen, Männer und Kinder verpflegt, untergebracht und versorgt werden konnten. Auch viele Apothekerinnen und Apotheker haben ihren Beitrag zu dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe geleistet – sei es bei ehrenamtlichen Hilfsorganisationen, in lokalen Nachbarschaftsinitiativen oder durch improvisierte sympathische Offizinberatung mit Händen und Füßen. Dass in diesem menschlich tragischen, aber eben auch militärischen, wirtschaftlichen und energiepolitischen Spannungsfeld nicht einfach ein zuvor geschlossener Koalitionsvertrag abgearbeitet werden kann, ist kaum verwunderlich. Gleichwohl lassen sich drei Beobachtungen machen, die aus Sicht der Apothekerschaft bemerkenswert sind.

Erstens: Der Pandemie-Modus geht leider immer noch weiter. Gesetze wie das Infektionsschutzgesetz werden immer wieder abgeändert und modifiziert. Zeitlich befristete Verordnungen werden oft im letzten Moment noch verlängert, sodass Leistungserbringer oft gar nicht genau wissen, ob sie morgen noch dieselben Leistungen erbringen dürfen wie heute – und auch nicht zu welchem Abrechnungspreis. Dieser Pandemie-Modus war in den beiden Jahren 2020 und 2021, als man mit Schnelltestmangel oder Impfstoffknappheit zu kämpfen hatte, sicher unvermeidlich. Im Jahr 2022 wirkt dieser Modus jedoch nicht mehr situationsgerecht. Man kann das Phänomen dem neuen Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach zuschreiben, der in dieser Hinsicht mit Fachwissen und Detailkenntnis glänzt und deshalb seine Hauptaufgabe in der Pandemie-Bekämpfung sieht. Auch das anhaltende Gerangel zwischen Bund und Ländern, wer welche Masken- oder Impfpflicht wo genau umsetzt oder eben nicht, ist nicht förderlich. Dass die Corona-Pandemie bereits vorbei und deshalb komplett zu ignorieren sei, glaubt allerdings auch niemand innerhalb der naturwissenschaftlich orientierten Apothekerschaft.

Zweitens: Kurzfristige Einsparungen für die Krankenkassen haben Priorität vor einer langfristigen Finanzierung des Gesundheitswesens. Das sogenannte GKV-Finanzstabilisierungsgesetz, das am 11. November 2022 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht wurde, ist das – in Anführungszeichen – beste Beispiel für diesen Jahrestrend. Das Bundesgesundheitsministerium musste damit selbst zugeben, dass die großen Gesundheitsreformen in diesem Jahr noch verschoben wurden. Mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz sollen – wie der Minister argumentiert – alle Beteiligten im Gesundheitswesen ihren finanziellen Beitrag leisten – von den Versicherten über den Bundeshaushalt und die Apotheken bis zu den Arztpraxen. Aber gerade bei den Apotheken fällt es schwer, zu verstehen, warum eine Erhöhung des Apothekenabschlags zugunsten der Kassen von 1,77 auf 2,00 Euro – und damit eine Kürzung des Honorars pro Arzneimittel – für den Zeitraum vom 1. Februar 2023 bis 31. Januar 2025 vorgesehen ist. Bei Milliardenlöchern diejenigen Leistungserbringer heranzuziehen, die die geringsten Kosten verursachen, in der Pandemie am resilientesten waren, seit fast zehn Jahren keine Honorarerhöhung mehr hatten und nun hohe Lohn- und Energiekosten verkraften müssen, entbehrt jeder Logik. Da wird am falschen Ende gespart! Gerade das Argument des Hebens von Effizienzreserven trifft bei Apotheken nicht zu. Sie sind seit Jahren auf äußerste Effizienz getrimmt.

Drittens: Im ersten Jahr der Ampel-Koalition haben die öffentlichen Apotheken gleich ganz neue Aufgaben übernommen. Da sind zunächst die Pharmazeutischen Dienstleistungen, die seit Juni 2022 Millionen Menschen kostenlos angeboten werden können, wie zum Beispiel die „Erweiterte Medikationsberatung bei Polymedikation“ für ältere und multimorbide Patientinnen und Patienten. Ein wichtiges Signal! Ebenso folgerichtig ist das Überführen von Modellprojekten zur Grippeschutzimpfung in die Regelversorgung. Wenn viele Patientinnen und Patienten keine Hausarztpraxis haben oder deren Öffnungszeiten für sie nicht passen, werden nun entsprechend geschulte Apotheken die Grippeschutz-Impfquote erhöhen helfen! Was in anderen Ländern funktioniert, wird auch in Deutschland klappen! Und nicht zuletzt das im September 2022 in zwei Testregionen eingeführte und für den bundesweiten Rollout im Jahr 2023 vorgesehene E-Rezept ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Trotz zahlreicher Hürden stehen die Apotheken schon längst bundesweit bereit, um ankommende E-Rezepte einzulösen. Auch hier zeigt sich, dass ein mutiges Voranschreiten zuerst viel Überwindung bei sich selbst und anderen kostet, später aber viele Optionen eröffnet.

Wenn das Jahr 2022 aus Sicht der Apotheken vom durchaus anstrengenden Kleinklein einer Pandemiefortführung, Spargesetzgebung und Leistungsausweitung geprägt war, so könnte das kommende Jahr 2023 weitaus grundsätzlichere Weichenstellungen bereithalten. Es ist gut möglich, dass Bewegungen entstehen und Entscheidungen fallen, die das Gesundheitswesen über Jahre und Jahrzehnte beeinträchtigen und verändern werden. Drei Aspekte fallen ins Gewicht. Das Jahr 2023 wird weiterhin vom Ukraine-Krieg beeinflusst werden, auch wenn er hoffentlich bald beendet sein wird. Neben dem menschlichen Leid werden die energiepolitischen und globalökonomischen Effekte – von Warenströmen bis Inflationsraten – uns noch lange beschäftigen. Auch in den Apotheken steigen die Kosten für Warmwasser, Heizung und Strom, der nicht zuletzt zum Kühlen von Impfstoffen erforderlich ist. Da bislang im Bundeshaushalt nur ein Rettungspaket für Krankenhäuser geschnürt wurde, lautet die Frage, ob ambulante Leistungsträger wie Apotheken auch andere Rettungsschirme, wie solche für Klein- und Mittelständler, zu annehmbaren Konditionen in Anspruch nehmen können. Und: Werden sie überhaupt ausreichen? Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz war zwar nur kurzfristig gemacht, aber immerhin doch langfristig dem Ausformulieren eines Gesetzentwurfes die Meinung der Europäischen Kommission zur Europarechtskonformität einholt. Ein anderes Beispiel ist die Notfallversorgung. Hier sollen ambulante und stationäre Angebote noch besser koordiniert und ergänzt werden, um Lücken durch Multiprofessionalität und Integration zu schließen. Für Apotheken sind Schlagworte wie „verordnungsfähige Notfallbotendienste“ und „Flexibilisierung der Apothekenbetriebsordnung“ in diesem Kontext relevant. Letztlich wird es darum gehen, wie sich Staat und Gesellschaft eine flächendeckende Versorgung vorstellen. Auch hier gibt es das Versprechen des Bundesgesundheitsministers Prof. Lauterbach, die Apothekerinnen und Apotheker in die Gestaltung einer Strukturreform früh einzubeziehen.

Mit der Stärkung von Pharmazeutischen Leistungen und Nacht- und Notdienstfonds hält der Ampel-Koalitionsvertrag aus Sicht der Apothekerschaft ein paar richtungsweisende Vorhaben für die gesundheitspolitische Legislaturperiode bereit. Der Ukraine-Krieg und seine Folgen beschäftigen Staat und Gesellschaft nun aber anderweitig. setz und die Leistungsspektrum-Erweiterung waren für die Apotheken die wichtigsten Etappenziele im Jahr Eins von Kanzler Scholz und Minister Lauterbach. Teils aus akutem Handlungsbedarf, teils aus steigendem Erwartungsdruck stehen nun weitere gesundheitspolitische Aufgaben an: ein Rettungsschirm gegen die galoppierende Inflation, eine Reform der Krankenkassenausgaben und eine Strukturreform mit ambulant-stationärer Neujustierung. All diese Aufgaben sind notwendig und wichtig. Die Apotheken dürfen dabei nicht unter die Räder geraten: Sie erbringen eine ambulante Grundversorgung, leisten wichtige soziale Aufgaben und sind eine tragende Säule der Infrastruktur. Als kleine, flexible Einheiten vor Ort haben die Apotheken gerade in den vergangenen Corona-Jahren ihre enorme Resilienz unter Beweis gestellt. Das steht letztlich auch im Koalitionsvertrag – mal ganz explizit, mal zwischen den Zeilen. Hier gilt: Was sich schon lange bewährt hat, ist gut – und sollte deshalb unbedingt gestärkt werden.

(erschienen: "iX-Forum", Ausgabe 3/2022)

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