Kein Anlass mehr Präparate als sonst zu besorgen

"Klartext" ist das Online-Magazin von XING, mit täglich aktuellen Top-Themen aus Expertensicht. Für den Debattenbeitrag „Bevölkerung im Hamstermodus: Gefährdet Corona unsere Grundversorgung?"wurde ABDA-Vizepräsident Mathias Arnold um seine Meinung gebeten. Folgenden Beitrag hat er verfasst.

„Gerade während der Coronavirus-Epidemie zeigt sich, dass die Apotheken vor Ort ihre hohe Verantwortung für die Versorgung der Menschen wahrnehmen. Die Patienten können ihren Apotheken vor Ort vertrauen – auch darin, dass es wirklich keinen Anlass gibt, Präparate zu hamstern und den Arzt um ein zusätzliches Rezept zu bitten. Wir sind in ständigem Kontakt mit Großhändlern, Herstellern und Behörden. Von ihnen wissen wir: Konkrete Hinweise auf zusätzliche Lieferengpässe bei Arzneimitteln durch die Coronakrise gibt es nicht, auch wenn man natürlich im Laufe des Jahres mit spürbaren Auswirkungen rechnen muss.

Trotzdem möchte ich den Anlass nutzen, um auf eine Schwäche hinzuweisen, die unser Gesundheitssystem schon lange vor dem Coronavirus belastete: Lieferengpässe bei Arzneimitteln sind leider in deutschen Apotheken ein allzu bekanntes Phänomen. In den vergangenen Jahren hat sich die Situation sogar noch verschärft. Wer auf der aktuellen Lieferengpassliste des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) etwa 300 von den Herstellern gemeldete Einträge findet, hat eine erste Vorstellung vom Umfang dieses Problems.

Das Deutsche Arzneiprüfungsinstitut (DAPI) hat darüber hinaus die tatsächlichen Abrechnungen der Apotheken mit den gesetzlichen Krankenkassen ausgewertet. Demnach hat sich die Anzahl der Lieferengpässe im Jahr 2019 auf 18,0 Millionen Packungen fast verdoppelt – nach 9,3 Millionen Medikamenten im Jahr 2018. Im Jahr 2017 waren es noch 4,7 Millionen Arzneimittel gewesen. In der DAPI-Auswertung werden sogar nur Rabattarzneimittel berücksichtigt, weil dort das Rezept entsprechend gekennzeichnet ist, sodass das wahre Ausmaß von Lieferengpässen sogar noch unterschätzt wird. In der Rangliste der Nichtverfügbarkeiten im Jahr 2019 sind diverse Indikationen vertreten. So liegt Candesartan (Blutdrucksenker) vor Allopurinol (Gichtmittel), Valsartan (Blutdrucksenker), Venlafaxin (Antidepressivum) und Diclofenac (Schmerzmittel).

Mit dem neuen Rekordniveau an Lieferengpässen zeigt sich einmal mehr, dass Apotheker als Krisenmanager agieren müssen, wenn sie ihre Patienten wenigstens mit gleichartigen Alternativpräparaten versorgen wollen. Damit aus dem Lieferengpass eines einzelnen Medikaments kein Versorgungsengpass für eine ganze Patientengruppe wird, muss der Apotheker bei der Nachbarapotheke anfragen, den Großhandel und Hersteller kontaktieren oder gar den Arzt um eine Therapieänderung bitten. Dieser Aufwand bindet wertvolles Fachpersonal und kostet viel Arbeitszeit.

Dass die Apotheken durch die derzeitige Coronakrise noch zusätzlich belastet werden, ist kein Geheimnis. Viele Patienten sind verunsichert, haben Fragen, suchen ein vertrauensvolles Gespräch mit einem bekannten Gesicht, wollen sich unnötigerweise zusätzlich mit Arzneimitteln versorgen. Seitdem die industriell produzierten Desinfektionsmittel in Supermärkten und Drogerien vergriffen sind, stellen Apotheken diese auch noch in den eigenen Laboren selbst her. Dazu bedurfte es einer Gesetzesänderung und großer Mühen der Apotheken, an die notwendigen Ausgangsstoffe, wie bestimmte Alkohole, zu kommen.

Die Analyse des Problems hat sich trotz einiger Maßnahmen im jüngst verabschiedeten Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz (FKG) kaum verändert. Die Forderungen der Apotheker sehen unter anderem vor, dass Rabattverträge von Krankenkassen an mehrere – und nicht nur an einen – Wirkstoffhersteller vergeben werden. So kann bei Ausfall des einen Herstellers ein anderer schneller einspringen. Lieferfähigkeit und Qualität der Medikamente sind schließlich wichtiger als der letzte Euro Kostenersparnis für die Krankenkassen.

Auch soll die Produktion von Wirkstoffen und Arzneimitteln unter hohen Umweltschutz- und Sozialstandards wieder verstärkt in der EU stattfinden. Der Mehraufwand in Apotheken muss honoriert werden. Und auch Exporte von versorgungsrelevanten Arzneimitteln sollen bei Lieferengpässen beschränkt werden können. Diese und andere Forderungen könnten durch die aktuelle Krise stärker ins Bewusstsein gerückt werden. Trotzdem möchte ich noch einmal betonen: Hinweise auf zusätzliche Lieferengpässe gibt es nicht. Die Apotheker sind es gewohnt, individuell zu beraten und – falls nötig – auch Alternativpräparate zu beschaffen. Es ist wichtig, dass wir die Entwicklungen rund um das Coronavirus nutzen, um entsprechende Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Ein Anlass zu Panik oder Hamsterkäufen besteht aber nicht.“

(Arnold, Mathias; Klartext, 19.03.2020)